Eine sehr persönliche Buchbesprechung: Die Kraft der Kriegsenkel

indexIngrid Meyer-Legrand hat ihr erstes Buch herausgebracht: Die Kraft der Kriegsenkel – erschienen im Europaverlag.

Ich war sehr auf Ingrids Buch gespannt. Dass ich ein Kriegsenkel bin, ist mir nicht unbekannt. Die Auswirkungen aber, die Wucht und Dimensionen – das ist mir erst seit wenigen Wochen klar. Mich beschäftigte: Wieso ticke ich so wie ich ticke? Ich wollte wissen, welche Kraft und welches biografische Erbe in mir steckt. Ich habe ENDLICH Antworten gefunden.

Großartig, wie die Autorin zunächst einen weiten Bogen der Geschehnisse aus dem 1. und 2. Weltkrieg spannt und beschreibt, wer die Kriegs- und Flüchtlingskinder waren und welches Erbe sie uns mitgegeben haben. Die Eltern unserer Eltern haben den ersten! Weltkrieg miterlebt, überlebt oder eben nicht. Ich habe dies alles mit großem Interesse gelesen, denn der zweite Weltkrieg wurde bekanntermaßen im Geschichte-Unterricht unserer Generation ausgeblendet.

Die Kriegsenkel sind die Kinder der Eltern, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben. Die Väter teils als jugendliche Flakhelfer, teils als Soldaten an der Front oder die Frauen, die entweder im Bunker gezittert haben oder beim Wiederaufbau mitgeholfen haben.

Starke und emanzipierte Frauen (unsere Mütter) sind nach dem Krieg unterwegs gewesen, wenn sie nicht auf der Flucht Schreckliches erlebt haben. Die Soldatenväter (unsere Väter) sind erst viele Jahre später teils als gebrochene Männer aus dem Krieg oder der Gefangenschaft nach Hause heimgekehrt. Die Autorin beschreibt diese „Typen“ als für diese Zeit vorkommende „kalte Mutter“ und „ausrastenden Vater“.

Die Kriegsenkel sind die zwischen 1950 und 1980 Geborenen. Unsere Eltern haben nach dem Krieg den Wiederaufbau geleistet. „Alles war möglich“.

Was mir sehr gut gefällt, dass Meyer-Legrand die Kriegsenkel immer wieder zu Wort kommen lässt. In Briefen, Zitaten, Lebensgeschichten. Ich konnte sehr viel davon unterschreiben und habe mich verstanden gefühlt. Dazu gehören diese Hauptdilemmata, die die Expertin für Kriegsenkel beschreibt:

  • Stop & Grow: immer neugierig, immer wissensbegierig versus still halten, Pause machen, überlegen
  • Den Sinn des Lebens suchen anstatt „es den Eltern nachmachen: Erfolg haben, Geld verdienen“
  • sich immer wieder neu definieren, neue Lebensabschnitte beginnen
  • Das Beisammensein mit anderen Menschen wird als schwierig/anstrengend erlebt
  • Zwischen den Stühlen hocken:

* einerseits die Rolle der Vermittlerin übernommen zu haben
* andererseits die zwei Familiengeschichten in sich zu tragen: die väterliche Familie ist z.B. schlauer/reicher/besser, die mütterliche Familie ist dagegen z.B. dümmer/ärmer/weniger wert

Ingrid Meyer-Legrand hat ein sehr lesefreundliches kurzweiliges Buch geschrieben. Ich habe es „spannend“ gefunden und war mit der Lektüre schnell fertig.

Zunächst.

Im zweiten Teil ihres Buches kann man sich mehr Zeit nehmen und Fragen beantworten. Denn die Autorin stellt zwei Methoden vor anhand derer man sehr viel genauer die eigene Familiengeschichte anschauen und vertiefen kann.

Mit Hilfe des „Genogramms“, dem Familienstammbaum über mind. drei Generationen, schaut man in die Vergangenheit und erhält wichtige Informationen zur Herkunftsfamilie. Dabei sind die Lebensumstände, die gesellschaftliche und politische Zeit wesentlich, die die Menschen prägten, wie z.B. die Kriege oder dann danach der Wiederaufbau und das Wirtschaftswachstum.

Das von Ingrid Meyer Legrand entwickelte „My Life Story Board“ stellt sie uns beispielhaft mit diesen drei Themenbereichen vor:

  1. Herkunftsfamilie
  2. Schule
  3. Generation

Eindrücklich war für mich in diesem Zusammenhang das Kapitel „Wie funktioniert Erinnerung“ auf Seite 147. Ich zitiere hier aus dem vorletzten Absatz: Unser Blick in die Vergangenheit oder in die Herkunftsfamilie wird also bestimmt von den jeweiligen „aktuellen Rollen“ und aus aktuellen Kontexten heraus, in denen wir uns bewegen, und den daraus resultierenden Herausforderungen an uns …. wir haben je nachdem, was uns aktuell bewegt, unterschiedliche Vergangenheiten, aus denen wir dann natürlich auch schöpfen können“.

Als Sahnehäubchen erkenne ich das Kapitel an, in dem uns eine Kriegsenkelin berichtet, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Wie deutlich wird hier, wie sehr uns gesellschaftliche Verhältnisse prägen aber auch welche Herausforderungen sie bergen und mit welcher Kreativität teilweise wir hier agieren.

Mein Fazit: Wir haben als Kriegsenkel so viele Ressourcen! Meyer-Legrand ermutigt uns, diese zu erkennen und anzuerkennen. Sie zu nutzen in der aktuellen Lebenssituation, die wir gerade haben.

Vielleicht haben sogar unsere Ahnen und Ahninnen Antworten auf unsere Fragen, die uns gerade beschäftigen. Wir können sie fragen.

Ganz sicher aber können wir Botschafter*in sein, wie die Autorin den roten Faden weiterdenkt: Wir können dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft auch in Zukunft eine demokratische bleibt. Und was mich nach der Lektüre des Buches besonders stolz macht: Ich habe spezifische Fähigkeiten und ein besonderes Wissen erworben, weil ich mit kriegstraumatisierten Menschen, meinen Eltern und Großeltern, aufgewachsen bin. Und nicht nur das: Meine Eltern sind Vorbild für mich in ihrer Selbständigkeit: wie Sie mit Power und Ideen Erfolg hatten und für ihren Erfolg im wahrsten Sinne des Wortes „gekämpft“ haben. Sie haben Mut, Ausdauer, Ehrgeiz und Willensstärke (Überlebensgeist) gezeigt. Das ist mein ganz persönliches Erbe … die Kraft einer Kriegsenkelin.

Die Fakten zu Meyer-Legrands Buch:

254 Seiten
Europaverlag
18,99 € in D
http://www.europa-verlag.com/buecher/die-kraft-der-kriegsenkel/

Wer den roten Faden im Leben finden will, ist eingeladen ein My Life Storyboard-Workshop bei Ingrid Meyer-Legrand zu besuchen.

12 Gedanken zu „Eine sehr persönliche Buchbesprechung: Die Kraft der Kriegsenkel

  1. Danke, liebe Petra, für diesen unbedingten Lesetipp! Ich habe schon einmal dazu ein Buch gelesen (Wir Kinder der Kriegskinder) und finde die Thematik hoch spannend. Es ist in der Tat ein wirkmächtiges Erbe, das wir da in uns tragen 🙂 ich bin sehr gespannt auf das Genogramm und zum Storyboard-Workshop werde ich mich in jedem Fall näher informieren1
    Herzlichst
    Christine

    Gefällt 1 Person

    • Hallo liebe Christine, das lohnt sich bestimmt. Mit dem Genogramm hab ich schon mal kurz hier in der Schweiz bei einer Coachkollegin gearbeitet und es war schon höchst interessant.

      Gute Erkenntnisse … hab mir das Buch deines Vaters bestellt :-).
      LG
      Petra

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      • Liebe Petra, wie schön, dass Du das Buch meines Vaters bestellt hast. Ich bin gespannt, was Du dazu sagst.
        Ich war im Dezember auf einem Seminar zum Thema Aufstellungen und wir haben u.a. auf der Basis unseres Genogramms unsere Familie aufgestellt. Das allein war schon sehr spannend!
        Liebe Grüße, Christine

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